Meine sehr geehrten Damen und Herren,

herzlich willkommen im Eisenturm, der sich – seit Wochen und noch für Monate – in >Renovatio< befindet … Wundern Sie sich derzeit nicht über Staub und Sand und etwas Knirschen unter den Füßen… Sie haben die seltene Gelegenheit, den mittelalterlichen Turm eingepackt vorzufinden (etwas von Christo!)– das nächste Mal wird dies kaum vor dreißig (!) Jahren stattfinden… Der Turm offenbart im Äußeren die mittelalterliche Materialstruktur von einfachstem Bruchstein-Mauerwerk, das für simple Verteidigungsbauten ausreichen musste.

Herzlich willkommen im Kunstverein Eisenturm – Sieglinde Ludes – ich bin stolz, dass sie sich zu dieser Ausstellung hier bei uns überreden ließ…

Der Besucher sieht sich zunächst mit Ungewöhnlichem konfrontiert, das manche vielleicht sogar irritiert/befremdet, andere zu Sondierungsversuchen drängen könnte: zu einzelnen Schritten, die Schicht für Schicht das zu erschließen suchen, was sich nicht auf den ersten Blick offenbart/was die Artefakte im Innern so zusammenhält/was sie von der Idee und dem Machen her konstituiert… und was noch so mitschwingt…

Fünf mögliche Betrachtungsschnitte bieten sich an – nicht mit der Intention zu sezieren – sondern um die künstlerische Dichte zu versuchen auszuloten …

I. Filz – ein archaisches Material

Es ist eines der ältesten von Menschenhand gefertigten und gleichzeitig bis heute vielfach verwendeten Materialien. Filz schützt und wärmt.

Filze sind keine Gewebe, bestehen nicht aus einem geordneten System von Fäden und gewinnen ihren Halt nicht aus der Verzahnung von Kette und Schuss. Vielmehr werden die tierischen Haare gewalkt und durch Wasser, Wärme und mechanischen Druck unentwirrbar miteinander verfilzt. In diesem Amalgam lassen sich Fasern verschiedener Herkunft, Wolle von Schafen, Haare von Ziegen, Hasen, Kamelen oder auch von Menschen zusammen verarbeiten. Dies alles kann zur Meditation wachsen.

Schon bei Gottfried Semper (19. Jh.) heißt es: >Der Mensch kam früh auf den Gedanken, Filz zu bilden,  ein Gewirr aus Haaren, das ausnehmende Geschmeidigkeit und Dichtigkeit hat … sehr gut vor Kälte und Nässe und selbst gegen Wunden schützt…<

Sieglinde Ludes stellt Filz in manueller Arbeit her – wie man dies schon vor Jahrhunderten und länger machte … (Industriefilz taucht auch auf)… Sie setzt auf Filz als künstlerisches Gestaltungsmittel/Material einer >endlosen Umwandlung<

Die Transformationsfähigkeit von Filz – Sinnbild für Wärme, Leben und Geborgenheit – ist Ihnen allen bekannt über den wohl bedeutendsten deutschen Künstler im vergangenen Jahrhundert… Joseph Beuys setzte Filz als schützenden, isolierenden und wärmenden Stoff ein … Bei ihm wurde er zu einer Art von archaischer Haut – zum legendären Filzanzug von 1970 … dort eingespannt in einen narrativen Kontext.

Hier nun wird dem Material eine andere Aufgabe zugewiesen, es unterliegt dem Formwillen der Künstlerin, die dem Filz als künstlerischem Material neue Seiten abgewinnt. Als ästhetisches Gestaltungsmittel von Kunstwerken ist Filz traditionslos … eher aus dem Alltag vertraut in nützlichem Kontext… Etwa seit den 80er Jahren stößt Filz bei Künstlern auf stärkeres Interesse.

Ihr Studium führte die Künstlerin zu diesem Material.

Nicht nur Filz steht bei ihr im Fokus, die Künstlerin liebt darüber hinaus >arme Materialien<, >Vorgefundenes<, >Kunststoffe jeglicher Struktur< >Künstlerisches Recycling< könnte man es nennen, was teilweise hinter den Objekten steht.

Sieglinde Ludes eigenwilliger Gebrauch kunstfremder Materialien setzt voll auf die Wirkkraft des Materials/sie hebt damit die Materialität eines Werkes überhaupt ins Bewusstsein/sie setzt auf die Argumentation mit Materialien.

II. Ein weiterer Schnitt: Die Farbe GRAU

Das Grau, das hier dominiert, ist ja nur da, um den Extremismus von Farbigkeit zu vermeiden/sie bildet eine Pause zum Farbe bekennen – so könnte man spekulieren … Man könnte auch den kunsthistorischen Bogen schlagen zu  den Grisaille-Malern/den Grau-Malern des Mittelalters, die aus semantischen Gründen Bildern die Farben entzogen. Dort markierten die grau in grau gemalten Flügel die Alltagsseiten der Altäre à dahinter lauerte auf den Festtagsseiten die Farbenpracht… vielleicht gibt es hinter dem hier Präsentierten noch eine farbenfreudige Sieglinde Ludes/einen Werkbereich, den sie uns vorenthält/versteckt in Kellern … wo Farbe pur sich austobt! Das künstlerische >alter ego<

GRAU ist die Farbe des wolkenverhangenen Himmels an einem trüben Tag. Sie ist die Farbe vollkommener Neutralität, Zurückhaltung und Kompromissbereitschaft signalisierend. Sie ist eine unauffällige Farbe, die auch mit Langeweile, Eintönigkeit, Unsicherheit und Lebensangst in Verbindung gebracht wird.

Doch ist GRAU kein Synonym für Tristesse, kein destilliertes Stimmungstief, kein farbloses Urteil… Grau ist die Summe aller Farben plus Weiß. Grau ist in allem und alles ist in Grau.

GRAU versteckt gleichsam die Farben -, denn im Grau sind alle Grundfarben in gleichen Anteilen enthalten.

III. Zum DRITTEN der Betrachtung:

Die zentrale Schaltstelle für das Machen ist das experimentelle Vorgehen der Künstlerin, das EXPERIMENTIEREN mit den widerspenstigsten Materialien:

à Was ist dem jeweiligen Material zuzumuten/abzugewinnen/wo setzt der Gestaltungswille ein? Wo obsiegt wer? Wohin wird die Künstlerin demgegenüber im Prozess geführt – geführt von einem Material, das sich nicht fügt …(?) … das weder technisch noch formal die intendierte Wirkkraft zeigt? Stets geht es um Erkundungen des Materials (bis hin zu blutigen Fingern), Erkundungen, die sich auf formale Eigenschaften beziehen: auf die Schwere respektive Leichtigkeit, die Zugfestigkeit, die Spannung, auf die Flexibilität des Materials, auf all die Eigenschaften, die den Stoff zwischen den Polen der Härte eines Brettes und der Weichheit eines Tuches ansiedeln …

IV. Ein VIERTES: Die Dimension der Objekte/oder besser: das Geheimnis der Dinge:

Sieglinde Ludes schafft Neues/sie findet Auslöser für ihre Gestaltungen in der Umwelt  - im Gebauten/ in der Natur/ im Mikrobereich… Es sind surreale Gebilde, die in unserer Gegenstandswelt wurzeln, diese aber nicht einfach abbilden, sondern durch das Material und durch die Vergrößerung – ja Monumentalisierung – zu Artefakten werden, zu Vertretern einer Kunstwelt, die in der Intention den Kontakt finden zu Objekten der Kunstgeschichte – wie etwa zu denen von Méret Oppenheim: Ihr gelingt mit dem Titel >Frühstücksgedeck im Pelz< in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts eine schlagende Verfremdung  … die >Pelztasse< - eine mit Pelz eingekleidete Porzellantasse wurde zu einer Art Inkunabel surrealer Objekte … Gegenstände des täglichen Gebrauchs zu verfremden … das Gewöhnliche zum Ungewöhnlichen zu machen, war das Ziel. Die Unterwanderung unserer Gegenstandserfahrungen wurde thematisiert … eine Dimension, die in dieser Ausstellung mehr als offenkundig wird … Objekte aus oder für eine andere Welt? Sind es Platzhalter für Künstlichkeit? Sicher ein Szenario für Wesen, die sich unserer Wahrnehmung entziehen, die aber für die Künstlerin realer Bestandteil ihrer Welt sind? Der Reiz der Offenheit der Objekte für sinnhafte Spekulationen verfängt – sei es auch nur das formale Spiel im Minimalisieren wie im Monumentalisieren – eine jede Dimension sieht sich glaubhaft eingelöst in der Qualität des Gemachten im Detail wie in der Gesamtform.

Ding-Collagen/Verfremdungen im immerwährenden Materialspiel transzendieren Alltägliches auf andere Ebenen – Schöpfungen der anderen Art …

V. Der letzte und alles umschließende Betrachtungswinkel/das Leitmotto schlechthin: >Die Kunst der Reduktion< …

Dies ist Kunstmitte und Kernanliegen von Sieglinde Ludes in allen ihren Werkbereichen – so auch in den Zeichnungen – ein Feld, das zum Spannendsten der Ausstellung zählt … So etwa die Zeichnungen mit dem Titel: >Architekturschatten Orient< (10er Block): Nicht die Positivformen des Wahrgenommenen interessieren hier/nicht die architektonischen Details, sondern die Schattenlinien, die Negativformen… Ein Linienspiel im Auf und Ab der Silhouetten entwickelt sich … Im Hell und im abgestuften Dunkel schichtet sich Flächiges, das Kuben aufbaut, Räumlichkeit erzielt und Kleinteiliges vermeidet. Es ist kein Fabulieren mit Linien/kein informelles Linienspiel aus dem Bauch heraus – die Abstraktion der so angetroffenen Architekturen ist angesagt – die Bildfindung wächst aus flächigen Grauwerten mit Kraftlinien durchzogen …

Auf dem Weg zur minimalistischen Formensprache sind die >Marokkanischen Schatten I und II< (auf dem Übergang) …

Auf dem Weg zur verstärkten Einzelspur, die alle Zeicheninformationen aufnimmt und bildnerisch komprimiert, verdichten sie Lineaturen. Auf Vliespapier gezeichnet/vertikal orientiert, markieren sie einen bildnerischen Prozess, einen vorläufigen Endpunkt eines intellektuellen Vorganges, der auf Vereinfachung abzielt.

[Vollkommenheit entsteht nicht dann, wenn man nichts mehr hinzufügen kann, sondern wenn man nichts mehr weglassen kann<] - ein weiser Satz von Antoine de Saint Exupéry – auf die Perfektion der bildnerischen Einfachheit zielend – er könnte hier treffend als Motto firmieren.

Zum Abschluss liegt es nun bei Ihnen – meine sehr geehrten Damen und Herren – eine eigene Dimension auszuformen: die rezeptive Dimension, die sich zwischen Betrachter und Objekt aufbaut – die sinnlich-intellektuelle Brücke, die sich individuell ausformt und je nach erworbener Sensibilität zum Tragen kommt… sich in Synästhesie wandelnd.

Bemerkungen zur Ausstellungseröffnung am 4. Juni 2010

Dr. Otto Martin

English Version

Einführung Sieglinde Ludes Filzobjekte

Diskretes Engagement

Die Arbeiten von

Sieglinde Ludes

Während einer ungezwungenen Unterhaltung mit Sieglinde Ludes erfuhr ich, dass sie Künstlerin ist. Sie sagte nicht etwa, sie produziere Kunst. Alles, was sie sagte, war, dass sie mit Filz arbeite. Wir unterhielten uns über Filz. Unsere Plauderei brachte unsere Wertschätzung dieses Materials ans Licht. Unsere Unterhaltung enthüllte, dass Filz ein Stoff ist, der stimulierend, aber nicht eindeutig festgelegt ist. Filz könnte sich auf Haar beziehen. Filz könnte sich auf Kleidung beziehen. Filz könnte sich auf das Meer und die Dinge darin beziehen. Filz könnte sich auf Wärme und Behaglichkeit beziehen. Filz könnte als Material empfunden werden, das zu neutral ist, bar jeder Emotion. Aber mit dieser Tatsache im Hinterkopf haben mehrere Künstler den distanzierten, stimulierenden Symbolismus von Filz erkundet. Ich habe schon immer diejenigen Arbeiten von Joseph Beuys gemocht, die Filz enthalten. Seine Installationen unterstreichen seine Dankbarkeit diesem Material gegenüber. Es rettete ihm im Krieg das Leben. Ich wollte Filz immer aus ähnlichen Gründen benutzen. Er hat mich nie vor dem Tode gerettet, aber ich erinnere mich im Zusammenhang mit Filz an Augenblicke der Wärme und Behaglichkeit.

Ich war fasziniert von dem Gedanken an Sieglindes Kunst. Ich wollte mehr wissen. Mir waren die Gemälde und die manipuliertem Polaroids ihres Mannes bekannt, Guido Ludes.
Guido Ludes ist direkter mit seinen Kreationen. Seine Arbeiten haben ein offensichtlicheres künstlerisches Ziel. Sieglindes Arbeiten sind weniger offensichtlich. Ihre Stücke sind philosophische und emotionale Grübeleien unter Anwendung von Textilherstellung, Schneiderei, Technik und baulicher Konstruktion. Im Vergleich zu anderen Kunstformen könnten Sieglindes Werke unzugänglich und unkünstlerisch erscheinen. Aber mit der Form und dem material, welche sie zur Erkundung gewählt hat, trifft sie eine einzigartige Aussage.

Unser nächstes Treffen fand bei einer japanischen Haute Couture – Ausstellung in New Yorks ACE Galerie statt. Während sie sich ein Exponat anschaute, begann Sieglinde begeistert, die Experimente mit ihrer Arbeit zu beschreiben. Sie sprach von der zarten strukturellen Qualität des Materials. Sie beschrieb ihre Techniken und Konstruktions-methoden. Ich war angetan von ihrer Leidenschaft. Ich war angetan von der Vorstellung von Sieglindes Kunst. Es schien, als habe ihre Arbeit nichts mit dem allgemeinen Zweck zu tun, den Körper zur Heimeligkeit, zum Schutz oder der Mode wegen einzukleiden. Sie hatte nicht mit der Kunst des Zeichnens oder Malens zu tun. Sie hatte auch nichts damit zu tun, eine optische Dokumentation für den Bruchteil einer Sekunde auf Film zu bannen. Ich war gespannt, wie ihre Arbeiten aussehen würden. Einige Zeit nach diesen beiden ersten Treffen gab Guido mir ein paar Farbkopien von Sieglindes Arbeiten.
Die Kopien, wie das so die Art von Kopien ist, gaben die Feinheiten der Objekte nicht wieder. Interessanterweise sahen sie wie Fossilien aus; ich wollte sie mit eigenen Augen sehen. Nicht als Reproduktionen, sondern in demselben Raum, den ich bewohne. Ich warne Sie, Ihnen wird dasselbe passieren, wenn Sie dieses Buch lesen. Als ich die arbeiten endlich sah, kamen sie mir wie verschlüsselte moderne Relikte vor. Sie wirkten wie vornehme selbstbeherrschte Objekte ohne herablassende Intention. Die Photokopien waren eine kleine Hilfe. Sie zeigten die volumetrische Eigenschaft eines jeden Stückes. Und sie machten deutlich, wie wenig greifbar die Arbeiten sind.

Nach langer Zeit kam endlich der Tag, an dem ich die Stücke wahrhaftig sehen und befühlen konnte. In diesem ergreifenden, doch gleichzeitig entspannten Augenblick wurde mir klar, dass sieglinde Ludes eine Künstlerin is. Die Arbeiten sprechen für sich. Sie vermeiden die Klassifizierung als Handarbeit, da sie zum Nachdenken anregen. Ihre Arbeiten drücken die Intention der Erschaffenden aus. Ein Objekt ist nicht einfach ein Objekt in Sieglindes Werk. Es enthält eine erzählendes Element, auch wenn sich die Geschichte nicht offenbart.

Die Arbeiten wirken wie Diagramme unvoreingenommener Gefühle, welche in die Stränge des Filzes eingearbeitet sind. Ihre abstrakte Argumentation wird durch die gebündelten Gefühle ausgeglichen. Die „Briefe“ sind ein hervorragendes Beispiel für diese Dichotomie. Durch die einfachen Linien auf dem „Papier“ stellt man sich ein Gitter oder eine Skala vor. An einer Stelle scheint es so, als hätte die stützende Konstruktion die Worte aufgesogen, um das spezifische erzählerische Element der Buchstaben zu verbergen. Diese Liebesbriefe sind nicht mehr lesbar. Sie geben ihr Geheimnis nicht preis, aber sie tun das einzig Stolze – sie hinterlassen das Testament ihrer Gedanken.

Sieglindes Werke verlaufen in logischer Progression. Die ersten Arbeiten sind größtenteils planar, diagrammatisch und unstrukturiert. Sie sind strukturell an einer Stütze befestigt. Diese frühen Skulpturen setzten sich über die Eigenschaften ihres Materials hinweg und widersprechen ihnen. Dies ist nicht der Fall bei den späteren Werken, wo das Gefüge durch die Konstruktion der Stücke selbst gewährleistet ist. Die späteren Werke verschmelzen Struktur und Ideologie, intellektuelle und ideologische Ansätze, Ausdrucksstärke und Zurückhaltung. Die neu gefundene Detailfülle in den winzigen Faltungen verleiht dem Objekt die Fähigkeit jeglicher stützender Konstruktion zu trotzen. Die Faltungen und Falten bereichern strukturell ihr eigenes Sein. In „Großer brauner Kokon“ ist die Konstruktion die Basis für Form und Struktur. Die Ausführung ist so fein durchdacht, dass diese Arbeit ein stimmiges intellektuelles Objekt wird. Gleichzeitig scheit diese Werk als Objekt in der Natur beheimatet zu sein. Konventionell gesehen erscheinen Sieglindes dreidimensionalen Konstruktionen zunächst nicht wie Skulpturen. Sie umgehen die traditionelle Fähigkeit von Skulpturen, sich selbst als Kunst auszurufen. Sieglindes Strukturen erheben keinen Anspruch darauf, sich selbst als Kunst zu definieren. Sie arbeiten mit einfachen Wahrheiten. Sie sind dreidimensionale, diskrete Objekte, die mit ihrer eigenen unverwechselbaren persönlichen Geschichte überzogen sind. Sie kommunizieren das angeborene menschliche Verlangen, Gedanken, Gefühle und Geist auszudrücken. Und das ist es, was an Sieglindes Arbeit wichtig ist. Ihre Werke zeigen all die edlen Eigenschaften unseres Daseins als rationale Tiere – Tiere, die an der physischen Welt teilhaben, aber ein abstraktes Konzept mit den Empfindungen der Existenz füllen können. Diese Werke sind präsent und distanziert, düster., aber dennoch recht spielerisch. Sie scheinen sich dem Betrachter nur so weit mitzuteilen, wie der Betrachter bereit ist, sich ihnen mitzuteilen. Sie sind magisch, aber ruhig. Ihr Engagement ist diskret. Der Gedanke an Sieglindes Kunst hypnotisiert mich.

von
Robert Alejandro Chi
Designer, New York



Sieglinde Ludes am 18. Januar 2003 in Bern

„Jeder Mensch ist ein Künstler“. Mit dieser Aussage brachte Joseph Beuys seine Philosophie vom „erweiterten Kunstbegriff“ auf den Punkt.

„Jeder Mensch ist ein Mensch“, führte der Schriftsteller Michael Ende im legendären (Ravensburger) Diskurs mit Beuys dessen Philosophie weiter.

„Jeder Mensch zehrt vom Künstler im Menschen“, kann man feststellen, wenn man Sieglinde Ludes kennt. Sie hat für sich und damit für uns eine Bild- und Objekt-Welt erschaffen, die an Urtümlichkeit und Natürlichkeit kaum zu übertreffen ist. Ihre Materialien, archaisch wunderbar, haptisch erlebbar, optisch faszinierend, ihre Spontaneität, Beobachtungen in neuartiges Kunsterleben zu transformieren, zieht uns in den Bann.

Sieglindes Objekte aus selbst hergestelltem Filz oder selbst geschöpftem Papier, Schattenzeichnungen, Collagen, fossile Abdrücke oder Spuren des Meeresboden im weichen Grund, all dies sind Unikate, die in ihrer Erscheinungsform atemberaubend sind.

Warum? Sie treffen den Nerv, sensorisch und optisch. Sie elektrisieren. Sie verschaffen sich Zugang zu unserem Innersten, tief verborgen in der genetischen Codierung unserer biologischen Seele oder des Zentralnervensystems. Ich weiß wovon ich rede. Ich habe seit einiger Zeit das Privileg, mit einigen wenigen Objekten von Sieglinde zu leben. Andere umgeben mich in meinem Büro. Man meint, Sieglindes Kunst redet. Mal lauter, mal ganz leise.

Besucher sind erstaunt, wenn sie die Filz-Kunstobjekte mit den Händen angreifen dürfen. Ihre Zartheit, ihre Flexibilität, ihre Sprungkraft und Deformationsresistenz schaffen Überraschungsmomente. Und nachhaltige Erinnerungswerte. Wenn ich mich zurückerinnern will, umfasse ich eines meiner Objekte mit beiden Händen, schließe die Augen und bin augenblicklich mitten in Schottland, auf der Isle of Skye. Ich kann den Torf, das Meer und die Schafe riechen, den Wind und den Nieselregen spüren. Und wenn ich loslasse und die Augen öffne, hält dieses erleben noch eine Weile an.

Mystischer und authentischer zugleich kann man Kunst wohl nicht erleben.

Zeichnungen von Sieglinde entrücken uns der Welt. Sie wirken wie verschlüsselte Aufzeichnungen aus dem Universum, die an Grundrisse durch ihre tektonisch-linearen Strukturen erinnern. Man kann sich in ihnen verlieren und zugleich geben sie Orientierung auf dem Weg in neue Erlebniswelten.

Sieglinde versteht die Kunst, auf das wesentliche zu reduzieren und dadurch den Blick auf die Ganzheitlichkeit unserer Existenz zu schärfen. „Reduce to the max“, heißt ein Slogan, der in der Schweiz entwickelt wurde und für Aufsehen in der Werbung sorgte. Sieglinde zielt nicht auf Effekte. Sensationen liegen ihr nicht. Sie liebt das sinnbetonte, sie liebt Rituale und sie ist Perfektionistin, die an metaphysische Kräfte glaubt: im Umgang mit ihrer Familie, mit ihren Freunden, bei Reisen und anderen Aktivitäten. Man kann, wenn man bereit und sensibel genug ist, sich darauf einzulassen, telepatisch mit Sieglinde kommunizieren.

Unser gemeinsamer Freund, der kubanisch-us-amerikanische Künstler Robert Alejandro Chi, der heute – sicher kein Zufall – seinen 40. Geburtstag in seiner Wahl-Heimat New York begeht, verfügt über eine Seelenverwandschaft und Verbundenheit mit Sieglinde. Das mentale Interface ist das Kunstverständnis der beiden und ihre Fähigkeit, die Umwelt und das Erleben von Kunst und Kultur in ihr Innerstes zu bannen. Unvergessen bleibt mir als Beoachter der Besuch der Isimiake-Ausstellung in der NY-er ACE Gallery vor einigen Jahren. Sieglinde und Robert schwebten durch die weitläufigen Ausstellungsräume mit ihren multimedialen Inszenierungen. Ihr Dialog hatte etwas von zwei mikrokosmos-ähnlichen Gebilden – oder Himmelskörpern –, die ihr Weltbild mental auf den anderen transferieren, verinnerlichen und bewerten und dann wieder zurück übertragen.

Wenn es uns hier, in Bern, in dieser gelungenen Ausstellung, im Dialog mit Sieglindes Kunst gelingen mag, auch nur einen Bruchteil dieses intensiven Sinnesaustausches im Dialog mit Sieglindes Kunst zu erheischen, könnten wir mehr als glücklich sein. Es macht unser Leben reicher und uns selbst unendlich sensibler für das Erfahren unseres Selbst.

Um meine kurze, sehr persönliche Betrachtungen abzuschließen: Sieglindes Kunst ist für mich ganz ohne Beispiel. Ganz eigen. Ganz archaisch, ganz anrührend, ganz autark (eben wie sie selbst als Persönlichkeit). Man mag eigentlich nicht darüber reden, sondern Sieglindes Kunst erleben, mit den Augen, mit den Sinnen und noch lieber im Gespräch mit Sieglinde selbst.

Nachtrag:

Sieglinde ist dank ihres Freundes Roberts rund um die Welt und rund um die Uhr präsent. Er hat in einzigartiger Weise Sieglinde und ihre Kunst im Internet auf unserer zeitenwende.com-Website inszeniert.

Andreas Weber
www.zeitenwende.com